VON TIM BIRKNER
COBURG - Ich bin fast pünktlich. Nur zwei Minuten zu spät. Zwei Minuten können lange sein, wenn man warten muss. In der Musik sind sie eine kleine Ewigkeit. "Wer hält schon zwei Minuten Stille aus?", fragt Stadtkantor Peter Stenglein (44). Wie viele Stücke sind in zwei Minuten gespielt, aus, vorbei. Stenglein selbst orgelte die Wartezeit, natürlich Bach, natürlich auf seiner Schuke-Orgel in der Morizkirche. Dann macht er eine kurze Pause.
"Es gibt keine Musik ohne Pausen", sagt der Musiker. "Pausen haben eine gliedernde Funktion, sie strukturieren die Musik." Die barocke Fuge sei wie ein Gespräch zwischen mehreren Partnern, von denen immer wieder einer Pause hat und sich nur zu Wort meldet, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hat. So sollte es auch im Leben sein. Doch Stenglein beobachtet viel pausenloses Leben: "Die Menschen haben alle Handys und Notebooks, die ihnen Zeit sparen sollen. Doch noch nie hatten so viele Menschen so wenig Zeit wie heute."
Wenn nach seinen Konzerten die Zuhörer zu ihm kommen und sagen: "Ich habe gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist", dann ist das ein Kompliment. Dann hat die Musik die Zuhörer gefesselt. Dann verging die Zeit wie im Flug - die Musik hat ihre Zuhörer in ihre Welt entführt. "Das sind beglückende Abende. Manchmal gibt es die auch bei den Proben." Zum Beispiel bei den Proben mit seinem Bach-Chor. "Ich merke dann, whow, was ist denn heute Abend los?" 100 Sängerinnen und Sänger sind hoch konzentriert, sind von der Musik absorbiert.
"Manchmal erlebe ich natürlich auch das Gegenteil: totale Zerstreutheit." Dann haben die Musik, die Probenarbeit, der Chorleiter, alle drei ihre Mühe, die Konzentration auf das Wesentliche zu lenken. "Doch das funktioniert, wenn ich selbst von der Musik und der Idee dahinter ergriffen bin. Als Profimusiker muss ich das können", sagt Stenglein.
Musik werde vielfach aber bewusst zur Zerstreuung genutzt. Früh morgens raus aus dem Bett und das Radio an, und dann läuft es den ganzen Tag bis zur Bettruhe. "Die Menschen suchen die Berieselung, um stille Zeit nicht aufkommen zu lassen", findet Stenglein.
Die Musik hat sich gewandelt. Stenglein glaubt, dass die Menschen heute insbesondere zur Barockmusik einen Zugang finden: "Da gibt es klare Strukturen." Das suchen die Menschen heute offenbar. Ihre Zeit hat zu wenig Struktur. "Und jeder barocke Satz hat ein einziges Gefühl angesprochen." Kein Gefühl-Mix. Klarheit. Und die Barockmusik hat noch etwas: Das tempo ordinario, den Pulsschlag. "Wenn nichts anderes dasteht, gilt der Pulsschlag, zwischen 60 und 80 Schläge in der Minute. Ein Allegro ist doppelt so schnell, ein Largo halb so schnell." So einfach war das. Das Gleiche gilt heute bei großen Rockkonzerten: "Über den Pulsschlag kann ich das Publikum erreichen. Ohne Schlagzeug? - Undenkbar. 80 000 Zuhörer im Olympiastadion in München kann ich nur so erreichen." Massen sind nur über den Puls zu erreichen, nur so zu synchronisieren, nur so gleichzuschalten.
Doch die Gleichschaltung hat einen faden Beigeschmack. Sie ist im Dritten Reich perfekt betrieben worden, ausgenutzt worden. Gleichschaltung ist heute politisch nicht korrekt. Sie zu verhindern, ist politisches Ziel der Musik des 20. Jahrhunderts. Auch deshalb ist der Pulsschlag der zeitgenössischen Musik verloren gegangen - und mit ihm das Publikum. Nun hat diese Musik eine Pause, um zu sich selbst zu finden. Und um ihr neues Publikum zu finden.
Die Zuhör-Musik ist oft von Nebenbei-Musik ersetzt worden. Und die zeitgenössischen Komponisten haben die Emotionen, die ihre Kollegen in Barock und Romantik ansprechen wollten, durch den Verstand zu ersetzen versucht. "Musik ist immer ein Spiegel der Zeit", sagt Stenglein. Bis zum 1. Weltkrieg gab es den Kaiser und das Publikum war neugierig, wollte moderne Musik hören. Dann brach der Krieg und später die Demokratie aus.
Die Musik und ihr Publikum sind völlig verändert worden. "Die Kompositionen haben auf die Gesellschaft reagiert. Der Verstand steht im Mittelpunkt. Die Zwölftonmusik der 2. Wiener Schule ist ein gutes Beispiel. Das ist völlig basisdemokratische Musik, erst wenn alle zwölf einmal zu Wort kamen ist der erste wieder an der Reihe." Für die Töne gibt es Regeln, wie aber sieht es mit der Stille aus?
"Pausen kann man nicht in Sekunden definieren", sagt Stenglein und gibt ein Beispiel: "Nach einem Choralvorspiel im Gottesdienst mache ich eine Pause, damit die Gemeinde einsetzen kann. Ist sie zu kurz, kommt keiner mit. Ist sie zu lang, haben alle schon wieder ausgeatmet und es ist auch nichts."
Wenn Stenglein als Chorleiter vor seinen Sängern steht, gestaltet er die Pausen. Die Länge hängt von der Stimmung, der Jahreszeit und natürlich auch vom Raum ab. "Wenn ich selbst aufgeregt bin, nehme ich einen Augenblick wie eine Ewigkeit wahr." So geht es auch den Sängerinnen und Sängern. Sie sind aufgeregt und nehmen die Pausen ihres Leiters möglicherweise als zu lange wahr. "Da muss ich dagegenhalten. Das kostet richtig Kraft." Zum Beispiel die Generalpause im Halleluja des Messias. Oder im Elias. Der Chor ruft: "Gib uns Antwort, Baal", dann sind zwei Takte Generalpause.
"Diese Pausen erzeugen Spannung. Warte ich zu lange, reißt die Spannung. Warte ich zu kurz, verschenke ich einen Teil."
Da ist wieder der musikalische Bogen ins richtige Leben. Hin und wieder zwei Takte Generalpause in einem Menschenleben aushalten. "Mir selbst gelingen diese Pausen auch nur teilweise. Leicht lasse ich mich von allem Möglichen überschwemmen, gebe viel und habe wenig Möglichkeit, selbst aufzutanken." Was tun Musiker, wenn solche Generalpausen nicht eingehalten werden, wenn immer einer hineinsingt, hineingeigt, zu früh lostrompetet? Immer wieder die Pause proben. Bis sie den Namen verdient.